Nada Sebestyén

Geboren 1968

travel scholarship der Hessischen Kulturstiftung 2003:
Mongolei, China

1992–1996 Studium Freie Kunst und Kunsterziehung an der Hochschule der Künste, Berlin
Lebt und arbeitet in Berlin
Künstlerische Medien: Skulptur, Fotografie

Mobil sein, flexibel sein sind Eigenschaften, die die heutigen globalen Lebens- und Wirtschaftsstrukturen den Menschen abverlangen – aber wie geht das, ohne dabei notwendige Bindungen an Menschen, Orte, an Lebenspläne zu verlieren? Nada Sebestyén untersucht die Voraussetzungen für das Unterwegs-zu-Hause-Sein seit Jahren, an vielen verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen künstlerischen Arbeitsformen und Materialien. Mit ihrem Stipendium besuchte sie traditionell in der Landschaft lebende Nomadenfamilien in der Mongolei und die in Folge des großen Staudammprojekts von weit reichenden Umsiedlungsmaßnahmen betroffene Bevölkerung am Yangtsekiang.

Ihre neuen, skulpturalen Arbeiten thematisieren die Möglichkeiten, Hindernisse und auch die Schätze, die lange (Reise-)Wege mit sich bringen.

Interview mit Nada Sebestyén
Mit Nada Sebestyén sprach die Kuratorin und Publizistin Marjorie Jongbloed in einem
E-Mail-Interview.

Jongbloed: Im Jahr 2003 hat die Hessische Kulturstiftung dir eine Reise nach China und in die Mongolei ermöglicht. Was hat dich an diesen Reisezielen fasziniert?

Sebestyén: In China war mein hauptsächliches Reiseziel das Tal des Yangtsekiang kurz vor der Flutung des neuen Drei-Schluchten-Staudamms.

Wohnen und Unterwegssein sind zwei Hauptthemen meiner Arbeit, deshalb interessiere ich mich für den dortigen großräumigen Abriss der Städte und Dörfer und für die Umsiedung der Menschen. Die Umsiedlung hatte schon stattgefunden, ich habe die Abrissgegenden und Baustellen besucht und die Vorbereitungen für die Flutung gesehen. Die Landschaft wird durch den Menschen komplett umgebaut.

In die Mongolei wollte ich schon lange reisen, um die Weite und Wildheit der Landschaft dort zu sehen. Mich interessiert die Lebensform der nomadischen Einwohner. Ich wollte beobachten, wie sie mit dem Unterwegssein und dem Zu-Hause-Sein umgehen. Die Menschen in der Mongolei haben mich sehr beeindruckt.

Jongbloed: Welche Arbeiten sind in China und in der Mongolei entstanden? Hat die Reise neue Arbeitsweisen hervorgebracht?

Sebestyén: Ich glaube nicht, dass meine Arbeitsweise allein durch diese Reise beeinflusst wurde, vielleicht eher allgemein durch die vielen Reisen der letzen Jahre.

Vor Ort habe ich vor allem fotografiert, auch gezeichnet. In China am Yangtse ist die Fotoserie vorher entstanden. Auf den ersten Blick erkennt man auf den Fotos nur die Ruinenlandschaften, denn die Menschen darin sind ziemlich klein. Beim Fotografieren hatte ich das Gefühl, hier passiert gerade etwas Unfassbares, Ungeheuerliches. Ich wollte ihnen nicht zu nahe treten. Sie sind dabei, große Mengen Schutt und Material mit Lastwagen zu transportieren, in den Ruinenfeldern zu arbeiten, Verkaufsstände für Touristen aufzubauen, intakte Ziegelsteine aufzusammeln und weiter oben neue Uferanlagen und Stadtteile zu bauen. Die Menschen haben emsig gearbeitet, die Stimmung war gelöst, was mich überrascht hat. Vielleicht waren sie stolz, zu diesem Jahrhundertprojekt beizutragen.

In der Mongolei ist die Fotoserie Ich bin da entstanden. Vor allem habe ich dort aber Eindrücke gesammelt und beobachtet, wie das Leben funktioniert.

Die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen fließen später in meine Arbeit, lassen sich in Skulpturen, Collagen und Zeichnungen finden. Ich interpretiere Gesehenes in eigene Skulpturen um. Das Ergebnis ist ein ungenauer Nachbau einer Situation oder eines Gegenstandes. In der Mongolei habe ich mit Stoffen bekleidete Steinskulpturen gesehen und in Japan gibt es menschenförmige Grabsteine auf Friedhöfen, denen Kleider angezogen werden, um sie zu schützen und zu schmücken. Auf diese Weise werden sie personalisiert. Ich übersetze das Gesehene in eine andere Situation, ein Stück vom Sinn bleibt erhalten.

Jongbloed: Seit der Renaissance sind KünstlerInnen aus West-Europa aufgebrochen, um ferne, so genannte „exotische“ Orte zu erkunden und sich von anderen Kulturen inspirieren zu lassen. Fühlst du dich mit dieser Tradition verbunden oder ist es für dich genau so produktiv „im Kopf“ zu reisen, ohne dein Atelier zu verlassen?

Sebestyén: Exotisch hat für mich eine schlechte Konnotation, ich verbinde das Wort mit Kolonialismus. Mein Exotismus kommt aus einer Begeisterung für Unterwegs-Sein und für das, was ich auf den Reisen finde. Ich blicke nicht von oben herab auf vermeintlich ärmere oder weniger entwickelte Kulturen. Ich möchte unterschiedliche Menschen, Sprachen und Mentalitäten kennen lernen und dann die Gemeinsamkeiten bei ihnen finden, so etwas wie das Grundsätzliche: Da ist ein Mensch, der sucht sich einen Platz aus, da baut er sich eine Behausung.

Es ist also eine Notwendigkeit für mich, verschiedene Orte zu sehen, und wenn es nicht anders geht, findet die Reise eben im Kopf statt. Als anfängliche Quelle von Erfahrung, von Bildern und Erinnerungen brauche ich es jedoch, woanders gewesen zu sein.

Jongbloed: Es sind also beide Aspekte des Reisens in deinen Arbeiten vertreten. Erstens ist Bewegung für dich ein konstitutiver Moment in deiner künstlerischen Herangehensweise, und zweitens ist das Reisen eine Strategie, um Material für deine Arbeiten zu sammeln.

Sebestyén: Ja, Reisen und Weggehen waren zuerst notwendig, um geistig in Bewegung zu kommen. Auf den Reisen habe ich dann viel gefunden an Neuem und an Ideen, was meine Arbeit beeinflusst, bestimmte Arbeiten wurden dadurch erst möglich.

Zum Beispiel mein Aufenthalt von mehreren Monaten in New York 1998, wo ich hingefahren bin aus dem Wunsch nach Veränderung. Mein Plan war, dort Möbel für Einwanderer zu bauen, zum Überall-zu-Hause-Fühlen. Das Ergebnis sind die Moving Clothes, große Kleider aus vor Ort gefundenen gesteppten Umzugsdecken, in denen man mobil und überall zu Hause sein kann. Die Zeit in New York hat mir verdeutlicht, wie wichtig es mir ist, in Bewegung zu bleiben, ab und zu in fremde Länder zu gehen, weil ich dort den Komplex Behausung und zu Hause aus anderen Blickwinkeln betrachten kann. So ist das Reisen zu meinem zweiten künstlerischen Thema geworden.

Jongbloed: Die tragbaren Skulpturen und Teppiche hast du aus belastbaren Materialien wie Umzugsdecken oder Segeltuch gemacht. Wie siehst du heute diese Arbeiten? 

Sebestyén: Diese Arbeiten gehören zu Oblomovs Reisegepäck, sind Dinge, die er auf seiner Reise dabei hat oder findet. Oblomov ist eine fiktive Person, angelehnt an den Romanhelden von Iwan Gontscharov, beide haben ähnlich zwiespältige Charaktereigenschaften. Die Arbeiten sind leicht, flexibel, in meist starken Farben. Mir ist wichtig, dass sie Gebrauchsspuren haben, also schon im Einsatz waren.

Die Umzugsdecken und Planen interessieren mich, weil sie für Transporte zum Einpacken benutzt werden, also bei Mobilität unterstützen und schützen. Zeltplanen können als Ersatzwände von improvisierten Häusern eingesetzt werden. Und Segel werden zur Fortbewegung gebraucht.

Die Reisedecken Panorama bestehen aus bunten Decken und Kleidungsstücken, die ich zum Teil von verschiedenen Reisen mitgebracht habe. Sie sind benutzbar wie Teppiche, und ihr Material verweist auf viele unterschiedliche Orte und ehemalige Benutzer. Genauso bringe ich Fotos für die Fotocollagen von Reisen mit und kombiniere sie mit dem Fundus von Bildern aus meinem Alltag hier.

Jongbloed: Deiner Auseinandersetzung mit Nomadentum und Reisen ging eine intensive Beschäftigung mit der Erfahrung des Zu-Hause-Seins und der stillen Innenwelt des Interieurs voraus. Kannst du an Hand von einigen Arbeiten diese Entwicklung beschreiben?

Sebestyén: Die Entwicklung vom Haus und dessen Bewohnern zum In-Bewegung-Sein hängt mit Oblomov zusammen. Für diese Skulptur, ein großes rotes Wollkissen, das jeweils auf unterschiedlichen Stühlen sitzend präsentiert wird, habe ich in den ersten Jahren Einrichtungsgegenstände und Mitbewohner in Form von Skulpturen, Bildern und Dioramen gebaut. Sie stellen Oblomovs Haus, seine Umgebung her.

Kurz nach Ende des Studiums an der Hochschule der Künste in Berlin bei Christiane Möbus wurde es eng, das Haus war voll, es sind zeltförmige Skulpturen entstanden, die in den Garten konnten. Sie waren der Übergang zum Reisen und zum Unterwegs- und dabei Zu-Hause-Sein. Als nächstes kamen die Moving Clothes, sie sind noch kompakter und körpernäher als Zelte. Und dann Arbeiten, die Oblomov auf seiner Reise begleiten, wie die mit Kleidern benähten Reisedecken, und auch Fotoserien und Collagen, die das (von Oblomov) auf Reisen Gesehene kommentieren und interpretieren.

Das Prinzip Behausen und Wohnen ist immer noch wichtig, bloß aus anderer Perspektive. In der Arbeit Fremde haben Christina Zück, eine befreundete Künstlerin, und ich uns in fremden, zuvor nie bereisten Ländern in der Menschenmenge auf Märkten fotografiert. Diese Arbeit ist aus dem Eindruck absoluter Fremdheit entstanden, die ich anerkennen musste, als ich 2000 für sechs Monate in Istanbul war. Mein gedankliches Ziel, überall zu Hause sein zu können, war dort unerreichbar. Das wurde deutlich in der Öffentlichkeit in bestimmten, traditionell geprägten Gegenden der Stadt. Im privaten Gespräch, in meinem Freundeskreis war ich dort richtig aufgenommen, ein großer Gegensatz.

Jongbloed: Ich mag es sehr, wie du deine Skulpturen fotografisch dokumentierst. Diese geheimnisvollen, bisweilen unheimlichen Fotografien wie Sessel für anderthalb Personen (1994) und Ans Meer (1998) sind Werke für sich und erinnern mich an Arbeiten von Fischli und Weiss. Wie möchtest du das Verhältnis zwischen diesen Fotos und den einzelnen Skulpturen beschreiben?

Sebestyén: Unheimlich – das hat bisher niemand so gesagt. Aber du hast Recht, besonders bei den Möbel-Arbeiten interessieren mich Atmosphären, ich versuche, die Skulpturen menschenähnlich zu machen, ihnen etwas Lebendiges zu geben. Dabei interessieren mich ambivalente Charaktere: Der Sessel für anderthalb Personen ist gemütlich und sympathisch, hat aber sonderbare Proportionen, und Farbe und Schnitt des Bezugsstoffes erinnern an ein alt gewordenes Stofftier. Mittels theatralischer Inszenierung und entsprechender Abbildung kann ich den Eindruck dramatisieren. Deshalb finde ich ein Foto gelungen, das den Betrachter irritiert.

Ans Meer ist ein kleiner nachgebauter Grundschulstuhl neben einer Wasserlache aus blau gefärbtem Gummi. Ich habe ihn für eine Ausstellung im unheimlichen Keller einer ehemaligen Schule in Berlin-Mitte gemacht. Die Unheimlichkeit des Fotos entsteht aus der Atmosphäre, die ich durch Beleuchtung verstärkt habe. Für mich ist diese Arbeit weniger unheimlich als traurig, das ist ja auch ein starkes Gefühl. Nach meinem Aufenthalt in New York, als er entstanden ist, habe ich lange gebraucht, um wieder hier anzukommen. Der Stuhl sehnt sich weg.

Das Wieder-Ankommen nach Reisen gehört dazu: Die Reise ist nicht bei Landung zu Ende, mindestens so lange wie das Wegsein dauert es, bis ich wieder richtig hier bin.

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